Denn jeder Mensch ist ein Ausländer. Fast überall. Die ganze Welt ist durch diverse Konflikte in Aufruhr. Die Vereinten Nationen wirken wie gelähmt. Brandherde überall auf der Erde – ebenso Flüchtlingsströme, größer als 1945. Deutschland wird von vielen, zu vielen als rettende Insel verstanden. Keiner soll keinem den Vorwurf machen, er oder sie hätten sich nicht rechtzeitig darauf vorbereitet. War das nicht absehbar? Jedenfalls nicht in diesem Ausmaß.
Da kommen nun Menschen zu uns und keine Asylanten: schwer belastete Mütter, Väter, Kinder, junge Männer, Minderjährige ohne Familie, die in Deutschland hoffen ohne Angst und mit einem Dach über dem Kopf, mit Essen und Trinken leben zu können und hier nichts weniger suchen als eine neue Heimat. Viele werden gern lernen und arbeiten wollen. Auf Lehrer/innen und Therapeuten, auf die Jobcenter und die Dolmetscher, die Psychologen und die Verwaltungsangestellten, auf den Gesetzgeber und die Ordnungskräfte kommen Aufgaben zu, die einer längerfristigen großen Anstrengung bedürfen. Hinzu kommen mögliche – ja wahrscheinliche – innenpolitische Verwerfungen. Alle auf Dauer hier Lebenden müssen möglichst bald und intensiv Deutsch lernen. Es gibt nun für uns alle Aufgaben, große Aufgaben, aber nicht “Probleme“. (Von Stalin wird der schreckliche Satz überliefert: “Ein Mensch – ein Problem, kein Mensch – kein Problem.” Abgewandelt: Ein Asylant – ein Problem, kein Asylant – kein Problem!)
Alte nationale bis nationalistische Stimmungen sind überall in Europa reaktivierbar und reaktiviert. Solidarität darf nicht aufgekündigt werden. Von niemandem. Da wir nicht alle aufnehmen können, müssen auch die, die mit einer Wohlstandserwartung zu uns gekommen sind, aber in ihr Heimatland zurückgeführt werden, begleitet statt abgeschoben werden. Wenn wir wollen, daß wir nicht überflutet und überfordert werden, wäre es sinnvoller den Menschen in den riesigen Zeltlagern im Libanon, in Jordanien und auch in der Türkei, zu helfen. Und alle die, die nun nach Deutschland kommen und an Deutschland große Hoffnungen knüpfen, müssen Willkommenssymbole erleben, die noch nicht gleichzusetzen sind mit einer längerfristigen, unsere Rechtsordnung umfassenden Eingliederungsanstrengung. Es ist noch keine Willkommenskultur, sondern ein spontanes, herzliches, mitempfindendes Symbol, daß wir uns offen und mitfühlsam machen, konkret helfen statt abweisend zu reagieren.
Wir sind erst einmal alle völlig unvorbereitet, was Unterkünfte anlangt: logistisch. Was Versorgung mit spezifischen Speisen anlangt: alltagspraktisch.
Was Eingliederung betrifft: kulturell, sozialpsychologisch und sprachlich.
Es wäre völlig unangemessen, der Kanzlerin einen Vorwurf zu machen, daß sie statt Abweisung der uns zuströmenden, insbesondere aus Bürgerkriegen kommenden Menschen, eine Einladung durch einen zeitweisen Verzicht auf die Anwendung unserer Regeln ausgesprochen hat.
Die spontan in einer dramatischen Notsituation von Angela Merkel ausgesprochene Einladung an syrische Flüchtlinge – in einer geltende Regeln überspringenden Öffnung – wurde ihr von einigen zum Vorwurf gemacht. Sie reagierte menschlich beeindruckend: “Wenn wir anfangen, uns zu entschuldigen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, ist das nicht mein Land.” Und wie gut hat sie erfasst hat, was die tausenden, die spontan sich zusammenfindenden Helfer anlangt: “Ich danke allen, die den Hass ausgehalten haben”, die sich also selber nicht dem Hass ausgeliefert haben, indem sie eben nicht gegen-hassen und sich nicht von ihrem mitfühlsamen Engagement zurückziehen.
Wir können nicht alle aufnehmen und wir sollten uns nicht übernehmen, aber uns der Herausforderung stellen und konfliktminimierend tätig werden. Immer auch müssen Politiker die Zumutbarkeit im Auge behalten, statt nur hochmoralisch oder herzlos-sachlich zu reagieren. Denn das kann sprunghaft nach rechts ausschlagen bzw. Linksengagierte empören. Manchmal löst man ein Problem und schafft damit ein Problem, ein größeres oder kleineres. Die uns in Mengen zuströmenden Asylbewerber sollten vornehmlich in Gegenden untergebracht werden, die vergleichsweise wirtschaftlich gut gestellt sind. Jedenfalls nicht in Gegenden, in denen die Hoffnung auf Besserung ohnehin gestorben ist und die sich als Verlierer, Übersehene, Abgehängte empfinden. Unsicherheit darüber, was werden soll, geht um und geht über in diffuse Ängste. Und Angst ist fremdenfeindlich, gar aggressiv aufladbar. Wir gefährden unsere beeindruckende Aufnahmebereitschaft, wenn wir uns überfordern.
Es gibt eine schwer greifbare Angst im Lande, verbunden mit kräftigen Vorausurteilen. Politik steht immer auch vor der Aufgabe, nicht ein Problem zu lösen, ohne im Blick zu behalten, welches andere Problem sodann auftaucht und wie man dem wirksam begegnen kann.
Asylpolitik ist auch und nicht zuletzt als ein entscheidender Teil von Außenpolitik zu begreifen und zu betreiben. Also alles zu tun, daß wieder Hoffnung und Lebensmöglichkeit in den Herkunftsländern erwacht. Es ist ein Dilemma: Wer alle Schleusen aufmacht, gefährdet die Integration (die objektive und die psychologische). Wer aber Grenzen hochzieht, gefährdet die Grundlagen unseres auf demokratischen Werten beruhenden Gemeinwesens.
Wir gefährden unsere beeindruckende Aufnahmebereitschaft, wenn wir uns überfordern und die Probleme von denen ausgenutzt werden, die ohnehin dagegen sind, daß wir so viele Kriegsflüchtlinge und andere Asylanten in das Land hineinlassen, sie aufnehmen, menschlich behandeln und angemessen zu versorgen trachten. Es hatte und hat fatale Wirkungen, wenn der Bundespräsident vom “hellen Deutschland” und dem “Dunkeldeutschland” gesprochen hat, denn 1994 war mit Dunkeldeutschland das Gebiet der ehemaligen DDR und deren Einwohner gemeint und wurde zu einem der “Unwörter” des Jahres erkoren (“Buschzulage” gewann 1994 das Ranking). Das helle und das dunkle Deutschland wohnen Wand an Wand. Es geht durch Freundes-, Kollegen- und Familienkreise. Überall. Doch gibt es insbesondere im Osten eine diffuse Angst und vorauseilende Vorurteile und Ängste. Insbesondere diejenigen, die sich in diesen 25 Jahren als Verlierer, als zu kurz Gekommene empfunden haben oder in Gegenden leben, in denen es keine erkennbare Hoffnung auf Verbesserung der Lebensumstände bzw. auf eine ordentliche Arbeit gibt. Wenn dorthin, wo viele weggezogen sind, in die leerstehenden Gebäude Asylanten ziehen sollten, dann schlägt das leicht zum Rechtspopulismus bei bisher ganz normalen Bürgern aus. Da werden die Gerüchte geschürt, die Zuwanderer würden „uns“ etwas wegnehmen. Unsere Behörden arbeiten meist noch immer wie immer. Krisenstäbe fehlen. Neue Arbeitsstellen sind zu schaffen – mit Leuten, die sich nicht “so anstellen“ wie die geläufigen Bürokraten.
Asylpolitik hat darauf hinzuwirken (auf EU-Ebene), Hilfsgelder bereitzustellen für Gegenden und Länder, wo Menschen aus Hoffnungslosigkeit, Leid und Angst fliehen. Es muss neue Hoffnung in ihren Heimatländern geben, wenn wir dem Ansturm nicht erliegen wollen. Wir stehen vor mehreren Dilemmata, zum Beispiel: Wer alle Schleusen aufmacht, gefährdet die Integrationsfähigkeit, die objektive, die psychische, die politische. Und wer Grenzen hochzieht, gefährdet die Grundlagen unseres demokratischen, auf Werten beruhenden Gemeinwesens.
Europa ist ein solidarisches, gegenseitiges Versprechen, eine Ausgleichsgesellschaft zu schaffen. Ohne Solidarität mit Bürgerkriegsflüchtlingen in akuter Not wird das Feld den nationalen bis nationalistischen Alleingängen geöffnet. Die EU würde als Wertegemeinschaft perdú gehen. Sehr bald. Sehr schnell. Und die Schleusen für nationalistische Gefühle sind alsbald wieder aufgemacht.
Politik muss immer im Moment, in einer konkreten Situation, in einer vor uns liegenden Situation handeln. Zugleich muss sie vom Ende her denken: Was löst welche Gegenreaktionen aus, wo wir mit bestem Willen etwas entscheiden wollten, was “das Volk” nicht mittragen will. Werte stehen in Konfliktsituationen schnell gegen Mehrheiten. Sollen wir den Werten Raum geben oder Stimmungen Raum lassen? Im einen Fall wird das Mehrheitsprinzip aufgegeben, im anderen Fall das Grundprinzip: die Geltung der universellen Menschenrechte für alle.
Abgehängte, Zu-Kurz-Gekommene fürchten weiter, gar noch mehr abgehängt zu werden. Da kam es inzwischen zum erschreckenden Missbrauch des revolutionären, befreienden Rufes des aufmüpfigen Ost-Volkes von 1989: “Wir sind das Volk”. Dies wird nun in Marzahn und anderswo syrischen Flüchtlingsfamilien entgegengeschrien: “Wir sind das Volk” was heißt: ihr gehört hier nicht her und wir werden euch nicht aufnehmen, denn wir, die schon immer hier wohnen, sind “das Volk”. Dahinter steht der Imperativ: Ihr seid fremd. Ihr seid nicht willkommen. Haut ab! Oder wir schlagen zu! Sogar Bürgerversammlungen in Kirchen werden fremdenfeindlich aufgeladen, wie jüngst in Halle. Das Volk kann im Handumdrehen zu blöden Volk mutieren.
Asylsuchende aber werden dann eher zu Wirtschaftsflüchtlingen, wenn sie das reichste Land als ihren Fluchtort verstehen und darauf bestehen, dorthin zu kommen, ohne zu fragen und ohne zu wissen, was das bei uns in Deutschland für mental-emotional-politische-aggressive Folgen hat, die zugleich Rechtspopulisten Raum geben.
Jeder Verantwortliche muss sich beim Problemlösen fragen, welche anderen (größeren!) Probleme man dadurch schafft, daß man das Momentane stimmungsbestimmt aufgreift. Es geht ethisch immer um Güterabwägung, die ein wesentlicher Teil jedes verantwortlichen Handelns ist. Was gilt kurzfristig in einer bestimmten Situation? Und was ist längerfristig tragbar und ertragbar? Nur ethische Maximalisten und von ihren Wunschvorstellungen Erfüllte begegnen nüchternen Überlegungen mit Wut, Ablehnung und einem ethischen Rigorismus, ohne daß sie selber die Folgen für solches Handeln tragen müssten.
Wir wissen noch keine Lösung. Alle wurden überrascht. Und alle müssen sich nun den Problemen stellen, statt “der Politik” und “den Politikern” selbstgerechte Vorwürfe zu machen. Nur im partnerschaftlichen Zusammenwirken zwischen staatlichen Institutionen und bürgerschaftlichen Engagement werden wir die großen Aufgaben einer schrittweisen Integration meistern können.