„Normal sind auch die Anderen!“ – das war das Thema des Projektes, mit dem sich 23 Jugendli-che der 9. Klasse der 36. Mittelschule aus Dresden, alle im Alter zwischen 15 und 16 Jahren, im Juli 2006 vier Tage lang beschäftigten. Der Titel bezog sich auf das Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten. Das Projekt bot eine innovative Herangehensweise an Gruppenarbeit und Projektwochen in Schulen an, war in intensive Kleingruppenarbeit sowie ausgiebige Gedenkstättenbesuche geglie-derte und vermied das Lesen von langen, trockenen Texten.

In Kooperation mit dem HATIKVA e.V., Dresden und dem Schultheater Dresden organisierte die Evangelische Akademie Mei?en eine Reihe von Workshops und Gedenkstättenbesuchen in deren Verlauf die Jugendlichen sich mit dem Thema Nationalsozialismus, insbesondere mit Eu-thanasie in ihrer Gegend auseinandersetzten.

Das Projekt endete in einer Ausstellung, die anfangs im Dresdner Rathaus gezeigt wurde und dann weiterwanderte. Derzeit erarbeiten die Jugendlichen eine Dokumentation, die u.a. an ver-schiedene Bildungsinstitutionen weitergeleitet werden soll.

Hintergrund

Die Idee dahinter: Nur durch eine intensive Aufklärung über die Schrecken des Nationalsozialis-mus lässt sich ein intensives Demokratieverständnis fördern und werden die Hürden Migration und Fremdsprachlichkeit abgebaut. Ziel war es, den Jugendlichen, die zu Beginn des Projektes kaum mehr als Eckdaten des Nationalsozialismus kannten, ein Bewusstsein dafür zu vermitteln, welche Brisanz die von den Nationalsozialisten vorgenommene Einteilung in “normale” und andere Menschen, in lebenswertes und nicht lebenswertes Leben hatte. Mit dem so genannten “Euthanasiebefehl” leitete Adolf Hitler 1939 die systematische Tötung “lebensunwerten Lebens” ein. Allein in der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein wurden zwischen 1940 und 1941 etwa 15.000 Menschen vergast, weil sie psychisch oder physisch krank waren. Auch gab es “Forschungen” am lebenden sowie am toten Menschen. Das un-menschliche Ziel war es, die Deutsche Rasse von allem zu befreien, was weder dem Staat noch der Wirtschaft als nützlich erschien.

Lokaler Anknüpfungspunkt für die Projektarbeit war die seit dem Jahr 2000 bestehende die Ge-denkstätte Pirna-Sonnenstein. Sie sollte auch auf die unmittelbare Nähe von Tötungslagern zum sozialen Umfeld aufmerksam machen.

Das Projekt

Die Gruppe der Teilnehmer war sehr heterogen, einige von ihnen sind Sprachheilschüler, einige haben ein Aufmerksamkeitsdefizit /Hyperaktivitätsstörung (ADS/ADHS), andere wiederum haben einen Migrationshintergrund. Das Projekt gliederte sich in drei Workshops: eine Schreib-werkstatt, einen Theaterwokshop sowie einen Fotoworkshop. Im Rahmen ihrer Kleingruppen besuchten die Schüler die Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein und bearbeiteten dort Aufgabenstel-lungen. Die Tage starteten jeweils mit einem gemeinsamen Frühstück, bei dem der Tische von den Jugendlichen selbst gedeckt und wieder abgeräumt wurde.

Theaterworkshop

Hier beschäftigten sich die Jugendlichen dann im Laufe des Tages mit alltäglichen Szenen der “Normalität”. Durch die Beobachtung von Menschen in ihrem täglichen Umfeld z.B. in der Fu?gängerzone, entwickelten die Teilnehmer einzelnen Szenen und Situationen der Ausgren-zung. Sie führten hierbei selbst Regie und berieten sich gegenseitig.

Fotoworkshop

Die Jugendlichen erlernten zunächst die Bedienung ihrer Kamera. Sie näherten sich der Gedenk-stätte durch die Linse und fanden so einen weiteren Weg sich mit dem Ort und einzelnen Ele-menten genauer auseinander zu setzen. Des Weiteren machten sie Selbstportraits, die dann direkt vor Ort ausgedruckt und diskutiert wurden.

Schreibwerkstatt

Die Schreibwerkstatt hingegen besuchte als erste die Gedenkstätte. Sie befasste sich vor allem mit dem Schicksal eines Mädchens: Ursula Heidrich. Sie formulierten “Trostbriefe” und führten fik-tive Interviews geführt, um sich besser in die Rolle der Täter hineinversetzen zu können.

Ergebnis

Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Evangelische Akademie Mei?en trotz schwieriger Grundvoraussetzungen (Lernstörungen, mangelndem Wissen) ein erfolgreiches Projekt auf die Beine gestellt hat. Die Jugendlichen lernten im Verlauf des Projekts besser miteinander zu kom-munizieren, sie bekamen ein Gefühl für die Begriffe “Normal” und “Anders”. Besonders bewegt wurden viele durch das Schicksal von Ursula Heidrich, aber auch durch die Tatsache, dass im Lager Pirna-Sonnenstein Menschen in ihrem Alter ermordet wurden. Wichtig war besonders die abschlie?ende Aufarbeitung, die sich in der Ausstellung widerspiegelte. Die Ausstellung ist der-zeit im Sächsischen Finanzministerium zu sehen.

Zum Schluss ein Auszug aus den Begrüßungsworten der Klassensprecherin zur Eröffnung der Ausstellung im Dresdner Rathaus am 12. September 2006:

„[…] Besonders beeindruckt waren wir von den Bildern im Keller von Pirna und von dem Leben der Ursula Heidrich. Sie konnte nicht laufen und hat deshalb in einem Heim gelebt. Dort war sie immer hilfsbereit und hat sich selbst Lesen und Schreiben beigebracht. Auch Ursula Heidrich wurde 1945 umgebracht, aber nicht in Pirna, sondern in einer anderen Anstalt. In unserer Aus-stellung kommt sie sehr oft vor. Es war sehr interessant in Pirna und wir haben etwas Neues erfahren. Heute ist auf dem Sonnen-stein eine Werkstatt für Behinderte. Einige Leute von dort haben uns in den Pausen über unser Projekt ausgefragt. Das war gar nicht so einfach zu erklären.

Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihr Zuhören und wünsche Ihnen einen interessanten Nach-mittag.“